Disskusionsrunde

Energie ist mehr als Strom

Der Anteil fossiler Energieträger am Gesamtenergieverbrauch soll in den kommenden Jahren sinken. Welche Schritte dazu notwendig sind, um dieses Ziel auch zu erreichen, diskutierte eine Runde erfahrener Energie-Markt-Spezialisten.

Energie ist mehr als Strom

Foto: en2x

Bis 2030 plant Deutschland, etwa die Hälfte seines Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen zu beziehen. Diese Zielsetzung wird im Bereich der Stromerzeugung teilweise bereits erreicht, doch Strom macht lediglich 20 Prozent des Gesamtenergiebedarfs aus. Um auch den restlichen Energiebedarf klimaneutral zu decken, werden grüner Wasserstoff und seine Derivate in größerem Umfang benötigt.

Doch woher kommen die „grünen Moleküle“ im benötigten Umfang? Und zu welchen Konditionen? Bislang werden notwendige Investitionen aufgrund bestehender Unsicherheiten bei Preis und Nachfrage nur zögerlich umgesetzt.

Welche Schwierigkeiten es gibt und was sich ändern muss, damit wir rechtzeitig mehr grüne Moleküle zur Verfügung haben, diskutierten in Berlin vier ausgewiesene Experten aus unterschiedlichen Perspektiven:

  • Markus Exenberger von H2Global Stiftung und H2 Global Advisory GmbH
  • Prof. Christian Küchen von en2x – Wirtschaftsverband Fuels und Energie e.V.
  • Dr. Carsten Rolle vom Weltenergierats (World Energy Council, WEC) und
  • Prof. Dr. Jürgen Peterseim von PwC Deutschland

Praxisnah und zielorientiert ordnen sie offene Fragen ein und weisen Wege in eine klimaneutrale, stabile Energieversorgung.

2030 wollen wir in Deutschland annähernd die Hälfte unseres Energiebedarfs über Erneuerbare Energie decken. Zeitweise erreichen wir diese Quote bereits heute – aber nur beim Strom. Doch Strom macht nur 20 Prozent unseres Gesamtenergiebedarfs aus. Wie bekommen wir die restlichen 80 Prozent auch noch „grün“?

Prof. Christian Küchen: Wir arbeiten bei Mobilität, Gebäudewärme, auch in Teilen der Industrie intensiv daran, den Stromanteil am Gesamtenergiebedarf zu steigern. Ich halte eine Steigerung auf 30 bis 40 Prozent realistisch, andere hoffen auf 50 Prozent. Dann fehlen uns aber langfristig immer noch 50 Prozent. Energie ist mehr als Strom, und die Lücke werden „grüne“ Moleküle füllen müssen. Das ist bislang fast nur Biomasse. Darum braucht es grünen Wasserstoff und Wasserstoffderivate. Sonst kommen wir in der Chemie, in der Luftfahrt und in anderen wichtigen Bereichen nicht weg von fossilen Energieträgern. 

Vorstellung der Disskusionsteilnehmenden

Prof. Christian Küchen

Foto: en2x

Prof. Christian Küchen ist seit dem 1. November 2021 Hauptgeschäftsführer von en2x – Wirtschaftsverband Fuels und Energie e.V. Der gebürtige Hamburger hat Verfahrenstechnik studiert und wurde im Fachgebiet chemische Reaktionstechnik an der TU Clausthal promoviert. Nach Stationen bei Shell und Führungspositionen im Institut für Wärme und Oeltechnik (IWO) wurde er Hauptgeschäftsführer des Mineralölwirtschaftsverbands (MWV), einer Vorgängerorganisation von en2x.

Dr. Carsten Rolle

Foto: en2x

Dr. Carsten Rolle ist Executive Director des Weltenergierats (World Energy Council, WEC) und leitet seit einem Jahrzehnt die Abteilung Energie- und Klimapolitik beim BDI in Berlin. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre promovierte er im Bereich Europäische Regionalpolitik. Für den BDI initiierte und koordinierte u.a. die Studie „Klimapfade für Deutschland“. Neben der Geschäftsführung im Weltenergierat, der deutschen Sektion im World Energy Council, ist er in verschiedenen Beiräten beratend u.a. für das Wasserstoffthema verantwortlich.

Prof. Dr. Jürgen Peterseim

Foto: en2x

Prof. Dr. Jürgen Peterseim ist Lead Expert Hydrogen and Alternative Fuels bei PwC Deutschland. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Planung und Optimierung von industriellen Anlagen und Kraftwerken; von fossil gefeuerten Anlagen über Energieeffizienz für zu erneuerbaren Energien. Vor seiner Tätigkeit bei PwC leitete er bei einem Planer industrieller Anlagen und dezentraler Kraftwerke den Bereich Strategie und neue Produkte. Peterseim ist außerordentlicher Professor für Nachhaltigkeit an der University of Technology Sydney, wo er auch promoviert hatte.

Markus Exenberger

Foto: en2x

Markus Exenberger ist Executive Director der H2Global Stiftung und Managing Director von H2 Global Advisory GmbH. Der Volkswirt und Ingenieur blickt auf mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung im Management großer und komplexer Energieportfolien auf vier Kontinenten und Tätigkeiten unter anderem für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zurück. Er ist mit der Entwicklung umfangreicher Energie- und Infrastrukturprojekte bestens vertraut. 

Alle sind sich ja einig, dass wir grüne Moleküle brauchen. Doch wir haben bis 2030 nicht mehr viel Zeit – und richtig viel scheint noch nicht passiert zu sein. Woran liegt’s?

Dr. Carsten Rolle: Wir haben eine Vielzahl von politischen Initiativen und unternehmerischen Projekten gesehen. Diese erste Stufe der Pilotprojekte ist erfolgreich gelaufen. Doch jetzt geht es um den Hochlauf. Wenn der nicht rasch startet, wird es mit unseren Zielen 2030 nicht klappen. Wir müssen unbedingt wichtige Infrastrukturentscheidungen treffen und diese auch bald umsetzen.

Warum geht der Infrastrukturaufbau so langsam voran?

Prof. Dr. Jürgen Peterseim: Alle haben erst einmal mit dem angefangen, was relativ einfach und preiswert war. Das heißt: Zuerst spart man möglichst Energie ein. Dann wird direkt elektrifiziert, siehe E-Mobilität. Grüne Moleküle folgen erst danach, denn Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur ist sehr kostenintensiv, sie sind zudem teurer als direkt Strom zu nutzen. Betriebswirtschaftlich ist dieses Vorgehen nachvollziehbar, aber Herr Rolle hat vollkommen recht: Wir müssen jetzt die Investitionen in eine Wasserstoff-Infrastruktur hochfahren.

„Wir haben mit dem angefangen, was einfach und preiswert war. Aber jetzt müssen wir die Investitionen in eine Wasserstoff-Infrastruktur hochfahren.“

Prof. Dr. Jürgen Peterseim, PwC Deutschland

Das wird teuer – kann Deutschland das überhaupt stemmen?

Markus Exenberger: Weltweit sehen wir, dass Unternehmen und Staaten sich auf die Nutzung grüner Moleküle vorbereiten. Dies geschieht nicht nur in Europa, sondern auch im Nahen Osten, in Chile, Australien und anderswo, wo Länder nach Möglichkeiten suchen. Das benötigte Kapital ist vorhanden. Allerdings müssen die Investitionen in Infrastruktur auch Aussicht auf rentable Renditen bieten, da sonst niemand investieren wird, zumindest nicht über ein paar Versuchsanlagen hinaus.

Küchen: Investitionen brauchen Sicherheit. Beim Strom war es nicht anders. Da gab es eine gesicherte Vergütung über 20 Jahre für Investoren in Wind- oder Solaranlagen, dazu unterlag der Stromsektor zusammen mit der Industrie dem CO-Emissionshandel und es war von Anfang an klar: Der Strommarkt wird tendenziell wachsen, was für Investoren eine gute Perspektive ist. Dennoch hat es 20 Jahre gedauert, bis wir den heutigen Anteil erreicht haben. Bei den grünen Molekülen stehen wir noch am Anfang der Lernkurve. Wir haben technologische Risiken, regulatorische Unsicherheiten. Und nicht zuletzt das Marktrisiko: Sind genügend Unternehmen bereit, die Mehrkosten für grüne Moleküle zu zahlen, wenn fossile Alternativen so viel günstiger sind? 

„Bislang gibt es nur Absichtserklärungen, da der Preis für Moleküle noch niemandem bekannt ist.“ 

Marcus Exenberger, H2Global

Peterseim: Ja, Investitionen in grüne Moleküle sind derzeit geprägt von Unsicherheit. Unternehmen, die jetzt in Produktionskapazitäten für grünen Wasserstoff investieren, sind auf Sicherheiten und Garantien angewiesen. Idealerweise würde der Markt diese bereitstellen, doch ist dies noch nicht der Fall. Deshalb ist es umso wichtiger, dass staatliche Fördermechanismen den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft begleiten. Eine wichtige Rahmenbedingung ist somit der klare politische Wille zur Förderung der Industrie auf deutscher und europäischer Ebene, welcher beispielsweise mit Investitionsgarantien die Unternehmen bei ihren Investitionen unterstützt.

Was heißt das konkret? 

Exenberger: Bisher gibt es lediglich Absichtserklärungen für Investitionen, da der Preis für grüne Moleküle noch unbekannt ist. Investitionen ohne eine klare Preisvorstellung sind jedoch unwahrscheinlich. Daher benötigen wir jetzt Klimaschutzverträge, sogenannte Carbon Contracts for Difference. Durch diese Verträge stellt der Staat einen Mindestpreis sicher, auf dessen Grundlage Unternehmen ihre Investitionen zuverlässig kalkulieren können.

Peterseim: Woanders passiert schon mehr. In Schweden gibt es ein Projekt zum Thema grüner Stahl. Da gab es staatliche Unterstützung, um die Investitionsausgaben zu deckeln. Aber auch ein Konsortium von Unternehmen wie Volvo und Ikea. Die haben gesagt: Wir nehmen grünen Stahl ab, auch wenn er teurer ist. Ich glaube, wir müssen auch Unternehmen mit klaren Klimaschutzzielen finden, die bereit sind, solche neuen Projekte zum Laufen zu bringen.

Rolle: Die Bereitschaft, Mehrkosten zu tragen, hängt vom Markt ab. Nicht immer kann ich meine höheren Energieeinkaufspreise weitergeben. Und es braucht Zeit. Das war bei Bio-Lebensmitteln nicht anders. Heute gibt es sie auch beim Discounter, davor aber lange nur im Hochpreissegment.

Beim Preis kann man ja an zwei Stellen ansetzen: Man kann grüne Moleküle durch Subventionen im Preis senken. Oder man sorgt dafür, dass fossile Energieträger teurer werden…

Rolle: Es wird Subventionen und gesteuerte Verteuerung brauchen, um das Preisdelta zu schließen. Dabei muss man aufpassen, dass es keine harten Verzerrungen zwischen unterschiedlichen Sektoren innerhalb der Wirtschaft gibt.

„Es wird Subventionen und gesteuerte Verteuerung brauchen, um das Preisdelta zu schließen.“  

Dr. Carsten Rolle, WEC

Küchen: Wir haben bereits etliche Subventionen, und es gibt eine Verteuerung durch die CO2-Abgabe. Doch man muss aufpassen, welcher CO-Preis auch in der Bevölkerung und der Wirtschaft noch akzeptabel ist.

Exenberger: Das Problem ist: Alles ist vollkommen überbürokratisiert. Wir sind zu langsam damit.

Rolle: In den USA weiß man beim Inflation Reduction Act, dem aktuellen, großen Förderprogramm der US-Regierung, von Tag 1 an, welche Förderung man erwarten kann. In Europa hingegen gibt es zu viele Ungewissheiten, zu komplexe Regeln.

Peterseim: Der IRA ist schon sehr geschickt gemacht, sehr pragmatisch und business-orientiert. Das hat uns in Deutschland Momentum genommen.

Küchen: Wir dürfen nie vergessen: Wir stehen im globalen Wettbewerb. Das gilt nicht nur für die Frage der Investitionen – das gilt auch für die Frage, wer nachher grüne Moleküle in welchem Umfang beziehen kann.

Exenberger: Auf absehbare Zeit wird die Nachfrage das Angebot übersteigen. Dann wird es um den Preis gehen – aber auch, wer den geringsten bürokratischen Aufwand macht. Was nützen uns dann genaue Spezifikationen und umfangreiche Anforderungskataloge, wenn der Aufwand für den Exporteur zu groß wird? 

Wir haben bereits eine Diskussion über die mögliche Verlagerung energieintensiver Industrien. Wird die zunehmen, wenn wir hier nicht genug grüne Moleküle bekommen?

Exenberger: Wir sehen ja jetzt schon, dass Australien sagt: Es ist sinnvoller, dass wir Euch nicht den Wasserstoff liefern, sondern direkt den Eisenschwamm. Also einen Schritt der Wertschöpfung übernehmen, der heute noch in Deutschland erfolgt.

Peterseim: Eine Verlagerung von Teilen aus der Wertschöpfungskette könnte ökonomisch und ökologisch naheliegen. Das wird noch eine schwierige Diskussion werden.

Rolle: Wir können und müssen uns in Deutschland durch Qualität differenzieren. Und wir müssen aufpassen, dass da kein Dominoeffekt entsteht. Sonst verlieren wir nicht nur Unternehmen und Arbeitsplätze, sondern machen uns dauerhaft abhängig von anderen.

Küchen: Wir brauchen relevante Produktion in Deutschland, was anderes bleibt uns auch als Exportnation gar nicht übrig. Nutzen wir die neuen Möglichkeiten und bauen neues Know-how auf: Eine komplexe Anlage zur Elektrolyse kann nicht jeder bauen und lässt sich auch nicht einfach kopieren.

„Nutzen wir die neuen Möglichkeiten und bauen neues Know-how auf.“   

Prof. Christian Küchen, en2x

Ist das ein Plädoyer für Anlagen zur Produktion grüner Moleküle hier in Deutschland und Europa?

Küchen: Aus industriepolitischen Gründen sind die sehr sinnvoll. Wir könnten auch Wasserstoff hier produzieren und hohe Transportkosten sparen. Aber die Nachfrage in Europa wird auf absehbare Zeit unsere innereuropäische Produktion an erneuerbarer Energie übersteigen. Darum ist es so wichtig, dass weltweit das Angebot an grünen Molekülen schnell hochgefahren wird.

Ganz ehrlich: Wird uns das schnell genug gelingen? Wann werden wir 50 Prozent Erneuerbare haben?

Küchen: Nach 25 Jahren Solarförderung liegt der Anteil von Wind und Sonne bei 30 Prozent des Stroms. Die anderen erneuerbaren 20 Prozent sind Wasserkraft und Biomasse. Und beim Markthochlauf für grüne Moleküle haben wir es mit noch größeren Herausforderungen zu tun. Wir werden bestimmt 20 Jahre benötigen, das Ziel zu erreichen. Und auch nur, wenn wir in dieser Dekade die industriellen Projekte anpacken, die es für grüne Moleküle braucht.

Rolle: In der Technologieentwicklung gilt: Je größer die Projekte werden, desto steiler wird die Entwicklungskurve sein. Heute lässt sich schwer sagen, wann wir das 50-Prozent-Ziel erreichen werden, aber vielleicht klappt es ja Mitte der 2030er Jahre.

Peterseim: Ich halte 2035 durchaus für realistisch. Aber die kommenden zehn Jahre werden entscheidend sein für unsere Lernkurve.

Foto: Franz Grünewald

Die Süddeutsche Zeitung ist weder für den Inhalt der Anzeige noch die darin enthaltenen Verlinkungen noch für ggf. angegebene Produkte verantwortlich.

Das könnte Sie auch interessieren

  • Von der Raffinerie zum Wasserstoff-Produzenten
    Nachhaltiger Umbau der fossilen Wirtschaft

    Es ist eine Art Generationenvertrag für das Klima: Bis 2045, so hat es die Bundesregierung beschlossen, soll Deutschland praktisch treibhausgasneutral sein.

  • Klimaschutz: „Nötig sind Investitionen im großen Stil“
    Interview mit Prof. Dr. Christian Küchen, Hauptgeschäftsführer en2x

    Statt wie derzeit vor allem Ausstiegsdebatten im Energiesektor zu führen, ist es dringend erforderlich, in neue Technologien einzusteigen, sollen die Pariser Klimaziele in Deutschland erreicht werden. Darauf weist Prof. Dr. Christian Küchen, Hauptgeschäftsführer des en2x – Wirtschaftsverbands Fuels und Energie, hin.

  • Der grüne Umbau
    Transformation

    Fossile Energien sind in der aktuellen Energiekrise gefragt. Doch ihre Zeit ist begrenzt, wenn klimaneutralen Energien die Zukunft gehören soll. Wie gehen etablierte Energieunternehmen mit dieser Herausforderung um, und welche Rolle werden sie in Zukunft haben?