Elektronische Patientenakte, Fitnesstracker, Apps mit Gesundheitsangeboten: Digitale Lösungen erleichtern schon heute die Gesundheitsversorgung. Doch was ist in Zukunft noch möglich? Die Berliner Agentur Point Blank, die auf forschungsgestützte Strategie- und Innovationsberatung spezialisiert ist, beschäftigt sich in Trendstudien und Innovationsprojekten regelmäßig mit Zukunftslösungen. Markt- und Trendforscherin Francesca Canu stellt vor diesem Hintergrund einige internationale Ansätze innovativer Gesundheitsversorgung vor. Thomas Ballast, stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK), blickt mit ihr auf die Versorgung der Zukunft und beleuchtet Machbarkeit und Bedeutung digitaler Innovationen im deutschen Gesundheitssystem.
Frau Canu, Sie haben sich Beispiele für zukunftsträchtige Projekte im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung angeschaut. Dabei fällt auf, dass das Thema Künstliche Intelligenz (KI) eine große Rolle spielt.
Canu: KI wird immer wichtiger, wenn wir über Gesundheitsversorgung sprechen. Auch in Deutschland haben wir es mit einem immer höheren Patientenaufkommen zu tun und stehen vor Fragen wie zum Beispiel die ärztliche Versorgung in Zukunft im ländlichen Raum flächendeckend sichergestellt werden kann.
Haben Sie ein Beispiel, wie KI in anderen Ländern eingesetzt wird?
Canu: In China stellt das Unternehmen Ping An Good Doctor sogenannte „One Minute Clinics“ zur Verfügung. Das sind ungefähr drei Quadratmeter große, öffentlich zugängliche Kabinen. Dort können sich Patientinnen und Patienten innerhalb weniger Minuten eine Diagnose ihrer Beschwerden einholen. Die Anamnese und Ersteinschätzung erfolgt über eine KI, danach schaltet sich ein Arzt oder eine Ärztin per Video dazu. Er sichert die Diagnose ab, gibt Behandlungsempfehlungen und stellt Rezepte aus. Die Patienten können die Medikamente dann aus einem Automaten direkt neben der Kabine beziehen.
Herr Ballast, könnten solche Kabinen in einigen Jahren auch in Deutschland stehen?
Ballast: Die Idee, Behandelnde mit Patientinnen und Patienten unkompliziert und auch örtlich von Arztpraxis oder Klinik unabhängig zusammenzubringen, ist richtig. Das geht nicht für alle Fälle, aber vielleicht bei einigen dermatologischen und bestimmten psychischen Erkrankungen. Bei den Kabinen kann ich zwar Blutdruck und Puls messen, aber sie legen ein grundsätzlich einschränkendes Merkmal der Fernbehandlung offen. Die Diagnostik ist nur sehr begrenzt möglich, weil es kein medizinisches Personal gibt. Da wird uns der medizinische Fortschritt aber sicher noch helfen, um das Behandlungsspektrum noch zu erweitern.
Umwälzungen stehen nicht nur bei der ärztlichen Versorgung an, sondern auch in der Pflege. Welche Trends zeichnen sich hier ab?
Canu: Bereits heute sind rund 22 Prozent der Bevölkerung in Deutschland über 65 Jahre alt – das ist jeder Vierte bis Fünfte. Tendenz steigend. Damit unsere Gesellschaft gesund altern kann – ohne, beziehungsweise mit möglichst geringem Bedarf an Pflege, wird das Thema Prävention immer wichtiger. Genauso wie die Frage: Wie kann Prävention auch im Alltag integriert werden? Hier spielen etwa Wearables heute schon eine wichtige Rolle. In Japan geht man sogar noch einen Schritt weiter: Dort wurde ein smarter Schlafanzug entwickelt, der nicht nur Vitalwerte wie Herzfrequenz oder Atmung misst, sondern auch einen Alarm auslöst, wenn die Trägerin oder der Träger hinfällt. Man kann mit ihm sogar die Raumtemperatur automatisch anpassen lassen, um die eigene Schlafqualität zu verbessern.
Ballast: Wenn ich an meine eigene Mutter denke, die mit 82 Jahren noch in ihrem Eigenheim wohnt, dann gehört sie zur Zielgruppe. Die Überlegung hinter dem Produkt ist ja die: durch stringentes Überwachen von Parametern älteren Menschen mehr Sicherheit in ihrem häuslichen Umfeld zu geben – und auch den Angehörigen, die sich Sorgen machen. Körperzustände mithilfe von Digitalen Helfern wie Sensorik zu messen, wird ein wichtiger Weg für die Zukunft werden.
Welche Herausforderungen bestehen beim Einsatz solcher Digitalen Helfer?
Ballast: Zum einen die Bedienbarkeit. Das Thema Smart Home hat sich zum Beispiel noch nicht richtig durchgesetzt, weil es für viele zu kompliziert ist, mit der Sensorik umzugehen. Die Technik muss so entwickelt werden, dass Menschen sie nicht als Belastung oder als Bedrohung wahrnehmen, sondern als Erleichterung. Wir waren zum Beispiel am Modellversuch von Philips beteiligt. Deren Hausnotruf „sicher zuhause“ nutzt Informationen und Sensoren, um das Sturzrisiko der Träger zu kalkulieren, warnt rechtzeitig und sendet nach Stürzen einen automatischen Notruf. Zentral ist dabei die Frage nach der Zuverlässigkeit. Wichtig ist, dass solche Techniken keine Fehlalarme auslösen. Wenn es da einmal einen falschen Alarm gibt, ist das den alten Leuten so unangenehm, weil sie niemandem zur Last fallen wollen – dann nutzen sie die Technik nie wieder.
Befragungen zeigen außerdem, dass die Digitalen Helfer möglichst unauffällig sein sollen – das spräche ja für Sensorik in Kleidungsstücken.
Canu: Das sehen wir auch immer wieder in Studien: Ob sich ältere Menschen überhaupt trauen mit der Technik umzugehen ist dabei wichtig. Aber auch die Frage, wie viel Veränderung digitale Helfer in ihrem Alltag bedeuten und ob sie als ein Zeichen des Alterns wahrgenommen werden.
Ballast: In den nächsten Jahren und Jahrzehnten kann es durchaus eine stärkere Verbindung von Elektronik und Biologie geben. In dem Sinne, dass Sensoren fest mit dem Körper verbunden werden.
Sensoren fest im Körper? Das klingt beinahe erschreckend, damit können sich bestimmt nicht alle anfreunden.
Ballast: So futuristisch ist das gar nicht – es gibt ja schon jetzt einen Sensor für Diabeteskranke, der über mehrere Tage mit dem Körper verbunden wird. Aber natürlich kann das immer nur eine Wahlmöglichkeit sein. Es ist eine Frage der Situation, denke ich. Wenn ich vor der Wahl stehe, ob ich mit einem Sensor zuhause weiterleben kann oder ins Pflegeheim muss, dann beeinflusst das sicher die Entscheidung.
Canu: Es hängt definitiv davon ab, wie stark der Leidens- beziehungsweise der Behandlungsdruck ist. Wir sehen bei chronisch kranken Menschen zum Beispiel eine höhere Bereitschaft, die eigenen Daten zu teilen.
Kommen wir zu Schwangeren und jungen Müttern, die ebenfalls medizinische Betreuung benötigen. Wie können Innovationen hier die Versorgung ergänzen und verbessern?
Canu: Hier steht wieder die Frage im Zentrum, wie Gesundheitsversorgung von zuhause aus funktionieren kann – nicht erst seit Corona. Das US-Unternehmen BehaVR hat mit „Nurture VR“ zum Beispiel einen Service basierend auf Virtual Reality entwickelt, der Schwangere und junge Mütter im dritten Trimester, bei der Geburt und in der ersten Zeit danach begleitet. Mittels VR-Headset können so Aufklärungsangebote zum Umgang mit Schmerzen, Stillübungen und Meditationsangebote genutzt werden. Erste Studien haben die Wirksamkeit der VR-basierten Angebote bereits nachgewiesen: Das Spannende dabei: Durch das immersive Erlebnis werden Inhalte anders rezipiert und wahrgenommen. Erste Studien haben die Wirksamkeit VR-basierter Angebote zum Beispiel in der Schmerztherapie bereits nachgewiesen.
Ballast: In Deutschland haben wir ein gutes Netz für die Geburtsvorbereitung, -begleitung und Nachsorge. Manche Hebammen sind mittlerweile rund um die Uhr für Schwangere erreichbar. Aber mehr Information und Aufklärung ist immer hilfreich. Deshalb bieten wir auch Anfang 2022 unseren Versicherten eine neue App an, allerdings ohne VR-Brille. Wir haben das Angebot in enger Abstimmung mit Gynäkologen entwickelt: Die App „mamly“ soll Schwangeren Tools anbieten, um sie auf die Geburt und Betreuung des Kindes vorzubereiten und ihnen auch Ängste und Sorgen zu nehmen. Wir sehen es hier als unsere Aufgabe, die Arbeit der Hebammen zu ergänzen, aber nicht zu ersetzen. Bei der VR-Brille sehe ich zwar, dass das Lernerlebnis intensiver sein kann. Aber ich stelle mir das insbesondere nach der Geburt schwierig vor, zum Beispiel aus zeitlichen Gründen. Und nicht jede nutzt gern eine VR-Brille: Je länger man sie aufhat, desto anstrengender wird es.
Da sprechen Sie ein weiteres großes Feld an: Die Versorgung bei psychischen Erkrankungen. Welche innovativen Ansätze können Sie hier beobachten, Frau Canu?
Canu: Im vergangenen Jahr gab es mit „Gamer Therapy“ eine interessante Kampagne , die durch das E-Sports-Unternehmen Skillshot und die Organisation Rise Above the Disorder ins Leben gerufen wurde. Es ging darum, sowohl das Thema Gaming aus dem Stigma Gewaltverherrlichung herauszuholen, als auch Hemmschwellen um psychische Erkrankungen und Therapien aufzuweichen. Denn: Online-Gaming beinhaltet sehr viel soziale Interaktion und ist oft Ort zum Austausch mit anderen, über das, was einen gerade bewegt. Die Kampagne bot deshalb kostenlose Gamingsessions, bei denen Spielerinnen und Spieler auf geschulte Therapeutinnen und Therapeuten trafen. Sie konnten dort im ungezwungenen Rahmen – beinahe beiläufig – über Sorgen, Nöte und Ängste reden.
Ballast: Das finde ich einen sehr guten Ansatz. Oft liegt die Schwierigkeit nämlich genau darin, Kinder und Jugendliche zu erreichen und zu sie zu motivieren, ihre Probleme zu offenbaren und daran zu arbeiten. Bei Angeboten für jüngere Versicherte – und bei digitalen Versorgungsangeboten generell – besteht die Gefahr, dass sie aus der Gesundheitsperspektive entwickelt werden. Am Ende sind Expertinnen und Spezialisten zufrieden, aber die Patientinnen und Patienten sind nicht überzeugt.
Themen wie Datenschutz erschweren die Zweckmäßigkeit solcher Angebote schnell.
Ballast: Genau. Das Thema Datenschutz ist sehr wichtig und wir nehmen es sehr ernst. Zum Beispiel haben wir unseren IT-Partner IBM bei der elektronischen Patientenakte zu höchsten Datenschutzstandards verpflichtet. Aber digitale Gesundheitsangebote müssen als Mehrwert und Erleichterung wahrgenommen werden. Deshalb orientieren wir uns an den Bedürfnissen unserer Versicherten. Wir verstehen unsere Aufgabe als Krankenversicherer bei der Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung so, dass wir nicht nur erkennen und weiterentwickeln, was klar auf der Hand liegt. Wir entwickeln lieber neue Lösungen, die einen neuen Standard setzen und den Menschen helfen.
Canu: Genau das ist auch das Ergebnis unserer Beobachtungen: Vorreiter sind diejenigen Unternehmen, die nicht nur unsere jetzigen Erwartungen erfüllen, sondern Angebote und Services neu denken und so die Zukunft aktiv mitgestalten.
Frau Canu, Herr Ballast, vielen Dank für das Gespräch.
Über Die Techniker
Mit fast 11 Millionen Versicherten ist die Techniker Krankenkasse (TK) die größte Krankenkasse in Deutschland. Die rund 14.000 Mitarbeitenden setzen sich tagtäglich dafür ein, den TK-Versicherten eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten. Mit zahlreichen Innovationen – wie zum Beispiel der elektronischen Gesundheitsakte TK-Safe – ist es das Ziel der TK, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben und ein modernes Gesundheitssystem maßgeblich mitzugestalten. Focus-Money (Ausgabe 7/2022) zeichnete die Techniker bereits zum 16. Mal in Folge als „Deutschlands beste Krankenkasse“ aus.
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