GESUNDHEITSBRANCHE IM UMBRUCH

Digitale Medizin – raus aus der Nische

Gesundheits-Apps und Sprechstunden per Videocall: Digital Health ist ein rasant wachsendes Segment in der Medizinbranche. Mittelständler sind ganz vorne mit dabei.

Digitale Medizin – raus aus der Nische

Kliniken tauschen Patientendaten untereinander aus, Abläufe werden vereinfacht. Foto: Adobe Stock

Der Arbeitsplatz des Internisten Carsten Henninger sieht nicht so aus, wie man sich die Praxis eines Hausarztes vorstellt. Empfang und Wartezimmer gibt es nicht. Eine Behandlungsliege auch nicht. Wenn Dr. Henninger mit seinen Patienten sprechen will, fährt er den PC auf seinem Schreibtisch hoch und dreht das Standmikro auf.

Telearzt Dr. Carsten Henninger

Der Tübinger Arzt ist Telemediziner, seit einem Jahr. Zuvor war er jahrelang in der Intensivstation im Krankenhaus tätig, bis er sich mit einer Hausarztpraxis selbständig machte. Doch dann erkrankte seine Ehefrau so schwer, dass er von daheim aus arbeiten wollte. Telemedizin war die Lösung. „Ein Segen“ sei seine Zusammenarbeit mit der Münchner Firma „Teleclinic“, sagt Henninger. Teleclinic – 60 fest angestellte Mitarbeiter, 30 000 Patienten – ist seit dem Start 2016 auf dem Gebiet der ärztlichen Fernbehandlung aktiv. Ärzte wie Carsten Henninger lassen sich ihre Patienten von dem jungen Unternehmen vermitteln. Das hilft dem Gesundheitssystem in einer Zeit, in der viele ältere Hausärzte keinen Nachfolger finden und immer mehr Patienten vor allem auf dem Land ohne Versorgung dastehen.

Mittelständler entwickeln innovative Geschäftsmodelle

Die Münchner Teleclinic und der Tübinger Hausarzt sind Teil eines rasant wachsenden Segments in der Gesundheitsbranche: „Digital Health“, Medizin mit Hilfe digitaler Anwendungen. Kliniken sind untereinander vernetzt und tauschen Patientendaten aus. Gesundheits-Apps ermitteln für Diabetiker den richtigen Zeitpunkt zur Medikamenteneinnahme. Software vereinfacht Arbeitsabläufe in Pflegeheimen. Wearables und Datentracker schaffen Zugänge zu Patientendaten. „Eine enorme Aufbruchstimmung“ in der Medizinbranche registriert Julian Braun aus dem Vorstand des „Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung“. Den Verband gibt es erst seit Oktober 2019, die Zahl seiner Mitglieder wächst ständig. Rhetorisch noch einen Schritt weiter geht Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer von Bitkom, dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien. Er sieht in der Digitalisierung „das größte Potenzial für die Medizin seit der Erfindung des Penicillins“.

Kein Wunder, dass gerade mittelständische Unternehmen die Chance ergreifen und innovative Geschäftsmodelle entwickeln. Sie sind flexibel und können sich mit aller Kraft auf eine spezielle Digital-Health-Anwendung spezialisieren. Das sieht auch Gesundheitsexpertin Isabel Thywissen von der KfW-Tochter DEG als Stärke der mittelständischen Firmen an – im Export und auch bei Technologiekooperationen mit Entwicklungsländern. Die größten Potenziale erkennt sie in der Medizintechnik. Schließlich gebe es in Deutschland „viele kleinere, hoch spezialisierte Unternehmen, deren Produkte weltweit anerkannt sind“.

Sensoren für Senioren

Der Erfolg der digitalen Gesundheitsbranche hängt unmittelbar mit dem Siegeszug des Smartphones zusammen. Acht von zehn Menschen in Deutschland nutzen ein internetfähiges Handy. Und so wie man damit heute online Reisen bucht und Schuhe bestellt, werden auch digitale Gesundheitsleistungen immer selbstverständlicher. Der Zahnarzt sendet seinen Patienten das Röntgenbild aufs Handy. Privatpatienten müssen ihre Rechnungen nicht mehr umständlich einschicken, sondern laden sie hoch. Auf der anderen Seite nutzen Unternehmen aus der Medizintechnik die Flut an Daten, die Nutzer selbst mit Hilfe von Wearables und Apps aufzeichnen. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten etwa für präventive Behandlungen oder Monitoring von Risikogruppen.

 

Das Karlsruher Unternehmen EasierLife beispielsweise hat ein digitales Sicherheits-System für Senioren entwickelt. Die Idee: In einer kritischen Situation, zum Beispiel nach einem Sturz, können alte Menschen oft nicht mehr selbst einen Notruf auslösen. Sensoren in Form von Kontaktmeldern in der Wohnung erfassen die Bewegungen, ein Algorithmus erkennt Unregelmäßigkeiten im Ablauf – und setzt bei Bedarf automatisch einen Notruf ab. „Ein solches System gab es bisher nicht“, sagt Natalie Röll, die das Start-Up vor sieben Jahren zusammen mit drei ehemaligen Kommilitonen des Informatik-Forschungszentrums der Universität Karlsruhe gegründet hat. Mittlerweile hat EasierLife 3000 Kunden mit seinen Systemen beliefert, zum Teil auch Alten- und Pflegeheime.

Natalie Röll, Mitgründerin von EasierLife. Foto: EasierLife

Auch die gesetzlichen Krankenkassen zahlen

Etwa 300 Euro kostet das Sensorsystem, wenn man es neu kauft – das war einigen Senioren und ihren Angehörigen zu viel. Seit 2017 bietet das Karlsruher Start-Up deshalb zusätzlich ein Mietmodell an. Das machte es für die Gründer einfacher. Ein Selbstläufer ist die Geschäftsidee trotzdem nicht.

 

Lange haben sich Unternehmen in der Digital Health-Branche über unsichere rechtliche Rahmenbedingungen beklagt. Die Kritik ist mittlerweile unberechtigt. So wurde bereits im Mai 2018 das sogenannte Fernbehandlungsverbot aufgehoben. Das führte dazu, dass Ärzte ihre Patienten per Video-Call behandeln dürfen, und zwar nicht nur bei Folge-Sprechstunden, sondern von Anfang an. Im Dezember 2019 trat das Digitale-Versorgungs-Gesetz in Kraft – ein wichtiger Baustein, um die Digitalisierung der Medizin in Deutschland voran zu bringen. Aufgrund dieses Gesetzes sollen gesetzlich Versicherte die Kosten für Gesundheits-Apps zukünftig erstattet bekommen. E-Rezepte und Krankschreibungen dürfen mittlerweile auch nach Videosprechstunden ausgestellt werden. Weitere Schritte folgen, denn die Politik hat die Brisanz erkannt. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird die Digitalisierung denn auch als „eine der größten Herausforderungen des Gesundheitswesens in den nächsten Jahren“ bezeichnet.

Noch ist die Branche in der Frühphase

Besuch bei der Online-Gesundheitsplattform Teleclinic. Gründerin und CEO Katharina Jünger führt durch die Räume eines Großraumbüros im Münchner Osten. Noch sitzen fast alle der 60 Mitarbeiter im Homeoffice, die Bildschirme sind verwaist. Doch der Betrieb geht nicht nur weiter, es läuft aufgrund der Coronakrise richtig gut. Die Vermittlung zwischen Arzt und Patient wird über eine App abgewickelt. „Das nehmen im Moment natürlich viele in Anspruch“, sagt Katharina Jünger, eine studierte Juristin.

TeleClinic-CEOs Katharina Jünger und Max Müller. Foto: Teleclinic

Erfolgsstorys gibt es einige in der Welt der digitalen Gesundheitsversorgung. Aber noch ist die Branche in einer Frühphase; viele Unternehmen müssen erst beweisen, ob ihre Idee und ihr Produkt in der komplexen Welt des Gesundheitssystems eine Berechtigung hat. Während der Coronakrise sind manche dieser Firmen in Existenznöte geraten. Solche Rückschläge werden den Durchbruch von Digital Health aber nicht verhindern.

 

Im Gegenteil. Gerade mittelständische Firmen sind in der Lage, sich schnell umzustellen und eine neue Idee zu entwickeln. Solche Flexibilität verlangt aber nach einer soliden Finanzierung. Unternehmen im Digital Health-Segment verdienen meistens nicht sofort Geld mit ihrem Geschäftsmodell. Um langfristige Perspektiven zu schaffen, bietet die KfW kleinen und mittleren Unternehmen interessante Möglichkeiten. Zum Beispiel den ERP-Digitalisierungs- und Innovationskredit. Neben einem Darlehen ermöglicht er ergänzend einen Förderzuschuss.

 

Tatsächlich besteht kein Zweifel daran, dass die digitale Medizin erst am Anfang ihrer Möglichkeiten steht. Sie verfügt über enormes Potenzial – sowohl für Anbieter wie für Patienten. In der Branche herrscht großer Optimismus. Der Tübinger Telemediziner Carsten Henninger ist jedenfalls überzeugt: „Wir kommen bald raus aus der Nische.“

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    Für manche Unternehmen ist es seit langem selbstverständlich, für andere seit der Coronakrise eine neue Herausforderung: Arbeiten im Homeoffice. Im Kühlschrank steht der „Quick-Lunch“ bereit, für den nächsten Video-Call wird schnell noch das Wohnzimmer aufgeräumt. Für Mittelständler ist Remote Work eine Chance, ihre traditionellen Strukturen zu modernisieren.

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