Der 14-jährige Tim traut sich schon gar nicht mehr, auf sein Telefon zu schauen. Immer wieder bekommt er Nachrichten von Mitschülerinnen und Mitschülern, die ihm gemeine Spitznamen geben, sich über seine Kleidung lustig machen oder ihn für etwas verspotten, das er im Unterricht gesagt hat. Tim traut sich nicht, seinen Eltern oder seinen Lehrern von den Nachrichten zu erzählen. Er hat Angst, dass sie ihn nicht verstehen. Morgen, beschließt er, wird er seinen Eltern sagen er habe Bauchschmerzen, damit er nicht zum Unterricht muss.
Tim ist kein Einzelfall. Die gemeinsame Studie vom Bündnis gegen Cybermobbing und der Techniker Krankenkasse „Cyberlife III – Cybermobbing bei Schülerinnen und Schülern“ hat ergeben, dass im Jahr 2020 jede dritte Schülerin oder jeder dritte Schüler Cybermobbing erlebt hatte. 2017 traf dies laut PISA-Studie noch auf rund jede sechste Schülerin oder jeden sechsten Schüler im Alter von 15 Jahren zu. Online-Angriffe auf Jugendliche haben enorm zugenommen – und die Corona-Pandemie, die das schulische Geschehen und die persönlichen Kontakte ins Digitale verlagert hat, hat die Situation noch einmal verschärft.
„Die Mediennutzung junger Menschen hat deutlich zugenommen. Damit sind sie noch stärker mit Online-Gefahren wie Cybermobbing konfrontiert“, sagt Lea Römer, Pressereferentin bei Juuuport, einer bundesweiten Online-Beratungsstelle gegen Mobbing. Im Corona-Jahr haben sich die Anfragen bei Juuuport mehr als verdoppelt, 2021 sind sie bislang stabil. „Cybermobbing beginnt schon in der Grundschule, sobald Kinder ihr erstes Smartphone bekommen. Bei jungen Menschen kommt Cybermobbing besonders häufig zwischen 14 und 17 Jahren vor“, sagt Römer.
Juuuport hilft Betroffenen seit mehr als zehn Jahren. Das Besondere: Die Beratung übernehmen Gleichaltrige. Die Juuuport-Scouts sind zwischen 16 und 24 Jahre alt und wurden von Rechts-, Internet- und Psychologie-Expertinnen und Experten geschult. Bei ihren Beratungen erleben die ehrenamtlichen Scouts, dass Kinder und Jugendliche ausgegrenzt werden, dass sie unter beleidigenden Nachrichten, dem Verbreiten von Lügen und Gerüchten oder öffentlichen Bloßstellungen leiden. „Ein ganz konkretes Beispiel ist, dass ein Fake-Profil in einem sozialen Netzwerk erstellt wird, das peinliche Fotomontagen zeigt, die dann herablassend kommentiert und geteilt werden“, erklärt Römer. Die Jugendlichen, die bei Juuuport Hilfe suchen, fühlen sich hilflos und sind oft verzweifelt. „Manche meiden die Schule, haben Schlafprobleme oder sogar körperliche Symptome.“
„Zentrale Aufgabe der Krankenkassen“
Weil Mobbing psychische und physische Schäden bei den Betroffenen verursachen kann, ist es auch für Krankenkassen ein relevantes Thema. „Wir sehen es als zentrale Aufgabe der Krankenkassen an, sich hier präventiv einzusetzen“, sagt Maren Puttfarcken, Leiterin der Landesvertretung Hamburg der Techniker Krankenkasse (TK). Die TK engagiert sich deshalb in der Prävention und unterstützt in der Hilfe der Betroffenen.
Bereits 2007 entwickelte die TK gemeinsam mit der Beratungsstelle Gewaltprävention der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg einen „Anti-Mobbing-Koffer“, der bundesweit mit Übungen und Informationsmaterial im Schulunterricht eingesetzt wurde. Das Projekt wurde zur Online-Plattform „Gemeinsam Klasse sein“ überarbeitet, um die Inhalte komplett digital verfügbar zu machen. Zunächst gab es eine einjährige Pilotphase in Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen. Seit dem Schuljahr 2019/20 kann die Online-Plattform bundesweit von allen weiterführenden Schulen genutzt werden. Aktuell wird das Projekt in dreizehn Bundesländern umgesetzt, darunter Thüringen, Hamburg und Baden-Württemberg.
Schulen können sich für die kostenlose Teilnahme am Projekt an die regionalen Ansprechpersonen in den Behörden ihrer jeweiligen Bundesländer wenden, die auf einer Website gelistet werden. Die TK und die Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg haben in den Ländern Multiplikatoren geschult, die ihr Wissen anschließend an die Lehrkräfte in den Schulen weitergeben. Mit der Schulung wird dann auch ein individueller Zugangscode für die Online-Plattform ausgegeben. „Ziel ist es, Lehrende nachhaltig im Kampf gegen Mobbing zu stärken und die dafür notwendige Fachkompetenz fest in der Schule zu verankern“, sagt Puttfarcken. Zusätzlich zum Programm gibt es Schulungsfilme, damit die Kompetenz in die gesamte Lehrerschaft einer Schule getragen werden kann.
Die Materialien der Plattform sind auf die Klassenstufen fünf bis sieben ausgerichtet. „Mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule kommen die Kinder in neue Klassenverbände. In diesem Moment werden auch die „Rollen“ innerhalb der Klassengemeinschaft neu verteilt, und es eröffnet sich die Chance, gleich in ein gesundes Klassenklima zu investieren“, sagt Puttfarcken. Idealerweise führen die Schulen in den ersten Wochen der fünften Klasse eine Projektwoche durch. Das Online-Portal „Gemeinsam Klasse sein“ liefert die Informationsmaterialien für die Projektwoche in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, die zur Auffrischung in Klassenstufe sechs und sieben herangezogen werden können. Die Materialien werden ständig um neue ergänzt.
„Mit den umfangreichen Arbeitsmaterialien erarbeiten die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrkräften Antworten auf zahlreiche Fragen: Was heißt Mobbing und was ist der Unterschied zu einem Streit? Wie kann man sich davor schützen und sich gegenseitig helfen?“, erklärt Puttfarcken. Zusätzlich lernt die Klasse, welche Handlungen strafbar sind. Gleichzeitig soll mit „Gemeinsam Klasse sein“ auch die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler geschult werden, damit sie Mobbing schneller erkennen, sich selbst und andere schützen können. Zum Einsatz kommen Arbeitsblätter, Filmmaterial und Gruppenübungen, wie zum Beispiel Rollenspiele. Sie sollen Schülerinnen und Schüler auch ermuntern, einzuschreiten. Denn die zentrale Botschaft der Aktion, so Puttfarcken, lautet: Beim Mobbing gibt es keine Unbeteiligten.
Deshalb werden auch die Eltern in die Projektwoche miteinbezogen. Im Vorfeld bekommen sie ein Anschreiben und ein Informationspaket, das sie auf Fragen vorbereitet. „Am Ende der Projektwoche ist ein Elternnachmittag geplant, an dem die Schülerinnen und Schüler Ergebnisse der Übungen und Workshops – vielleicht in einem kleinen Theaterstück – präsentieren“, sagt Puttfarcken.
Doch das ist nicht das einzige Projekt, das die TK im Rahmen der Prävention im Bereich Medienkompetenz unterstützt. Seit 2016 unterhält die Krankenkasse eine Partnerschaft mit der Online-Beratungsstelle Juuuport. Mit finanzieller Unterstützung der TK konnte Juuuport die Internetseite überarbeiten, Informationskampagnen erweitern und ein Online-Seminar an Schulen bringen. Die TK stellt außerdem die psychologische und medienpädagogische Betreuung der Scouts sicher. „Nicht zuletzt war es durch die Unterstützung der TK möglich, bestimmte Herzensprojekte unserer Scouts zu realisieren“, sagt Römer: Etwa die Rap-Songs des Juuuport-Scouts Kevin, die das Thema kreativ und zielgruppengerecht angehen. Einer der Songs bekam 2018 den Datenschutz Medienpreis. Kevins Anti-Mobbing-Rap wird von Medienpädagogen und Lehrkräften eingesetzt.
Jeder und jede kann sich gegen Mobbing positionieren
Die Juuuport-Scouts stärken das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen und erklären ihnen, dass sie keine Schuld am Mobbing haben. Die Expertinnen und Experten geben Tipps für den Umgang mit beleidigenden Nachrichten, für die Dokumentation von Online-Attacken mit Screenshots und klären über strafbare Bestandteile wie Beleidigung oder Verleumdung auf. Sie schulen Jugendliche, im Netz sparsam mit persönlichen Daten und Details umzugehen, um sich nicht angreifbar zu machen.
Juuuport erklärt Eltern, worauf sie ihr Kind bei der Internetnutzung vorbereiten sollten. Und die Beratungsstelle schafft ein Bewusstsein dafür, dass jede und jeder sich gegen Cybermobbing positionieren kann: „Indem er oder sie sich online oder auch offline ganz klar davon distanziert und offen sagt, dass das falsch ist und sich so mit den Betroffenen solidarisiert“, sagt Römer. Damit Kinder und Jugendliche wie Tim keine Angst mehr haben müssen, auf ihr Telefon zu schauen.
Über Die Techniker
Mit fast 11 Millionen Versicherten ist die Techniker Krankenkasse (TK) die größte Krankenkasse in Deutschland. Die rund 14.000 Mitarbeitenden setzen sich tagtäglich dafür ein, den TK-Versicherten eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten. Mit zahlreichen Innovationen – wie zum Beispiel der elektronischen Gesundheitsakte TK-Safe – ist es das Ziel der TK, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben und ein modernes Gesundheitssystem maßgeblich mitzugestalten. Focus-Money (Ausgabe 7/2022) zeichnete die Techniker bereits zum 16. Mal in Folge als „Deutschlands beste Krankenkasse“ aus.
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