
Deutschland. Ein Automärchen?
Klasse statt Masse ist das Motto, wenn es um den Erfolg der Autoindustrie geht – das gilt zumindest für Premiumhersteller. Doch das lukrative Geschäft ist bedroht – allen voran das der Deutschen. Der Markt, die Kundenerwartungen und das Verständnis von Mobilität ändern sich schnell und radikal. Wer jetzt nicht umdenkt, könnte bald das Nachsehen haben.
Ob diese Zahl nun stimmt oder nicht, spielt keine Rolle. Tesla kann und wird den automobilen Weltmarkt nicht nur mit einer zentralen Steuereinheit erobern, so fortschrittlich diese auch sein mag. Das weiß auch Tesla. Der geplante Bau der „Gigafactory 4“ im brandenburgischen Grünheide mit einem geschätzten Output von 500.000 E-Autos ist dennoch kein Zufall, sondern ein Schachzug: Ein US-Tech-Unternehmen lässt sich im mächtigen und stolzen Hoheitsgebiet der Autobaukunst nieder. Ein deutliches Signal, dass sich die Zukunft der weltweiten Autoindustrie in Deutschland entscheiden wird.
Daran hat Corona nichts geändert und auch ihre zukünftigen Auswirkungen werden laut Prognosen der Unternehmensberatung Kearney keine lang anhaltenden Folgen haben. Sicher: Die Automobilindustrie wurde hart von der Pandemie getroffen und wird auch im dritten und vierten Quartal dieses Jahres deren Auswirkungen spüren. Doch bereits 2021 könnte es zu einer Erholung kommen.
Dass die Zukunft der Autoindustrie in Deutschland unterdessen entschieden wird, hat mit dem Faktor Premium zu tun, also der Bereitschaft, für ein Produkt mehr Geld zu bezahlen als für ein objektiv vergleichbares Konkurrenzmodell. Das mag lapidar klingen, ist aber für die Profitabilität von Automobilherstellern sowie für den Wohlstand in Ländern mit einer Automobilindustrie von essenzieller Bedeutung. „Nur Premiumprodukte, also jene Produkte, die wir als Kunden begehrenswert finden, die wir unbedingt haben oder zumindest mit ihnen gesehen werden wollen, ermöglichen es, das deutsche Geschäftsmodell mit seinen vergleichsweise gut verdienenden Menschen und aufwendigen Sozialstrukturen und -leistungen aufrechtzuerhalten“, sagt Christian Malorny, der weltweite Autochef von Kearney. So werden 85 Prozent des gesamten Profits der deutschen Automobilhersteller mit Premiumfahrzeugen erzielt.
Eine entscheidende Frage
Ist das Digitale marginal? Das Premiumverständnis von Elon Musks Firma ist ein digitales. Tesla beherrscht digitale Funktionalitäten im Fahrzeug wie das Updaten der Software im Fahrzeug-Zentralrechner „over the air“ und die Anwendung von künstlicher Intelligenz definitiv besser als alle anderen Automobilhersteller.
Allein das hilft Tesla nicht, Premium-Automobilherstellern, allen voran den Deutschen, Paroli zu bieten. „Elon Musk weiß, dass Tesla nur in Deutschland lernen kann, wie Premium im weltweiten Automobilmarkt wirklich funktioniert“, erklärt Malorny. Um nachhaltig in die Gewinnzone zu kommen, muss das Unternehmen Premiumpreise verlangen – und Premiumqualität bieten. Hier schwächelt Tesla. Das Design ist zu wenig differenzierend und attraktiv, Oberflächen- und Verarbeitungsqualität kritisch, der Service unterdurchschnittlich. Die Kundenzufriedenheitsstudie der Marktforscher von J.D. Power (2020) unterstreicht das. Hier liegt Tesla mit 250 technischen Problemen pro 100 Fahrzeuge auf dem letzten Rang.
Das Beste aus beiden Welten
Abgesehen also von einer sehr langen Zeitspanne, die sowohl von den Deutschen als auch von den Amerikanern benötigt werden müsste, um das jeweilige Premium des Anderen zu beherrschen, stehen dieser auch exorbitante Investitionskosten gegenüber. „Partnerschaften zwischen Automobilherstellern und Tech-Unternehmen, quasi das Beste aus zwei Welten, könnten ein Lösungsweg sein“, bemerkt Andreas Form, Partner bei Kearney. Wäre da nicht die Sorge um die Datenhoheit und die Angst, dass Tech-Unternehmen viel agiler und schneller ganz neue Geschäftsmodelle mit den Daten eines Autos beziehungsweise dessen Fahrer umsetzen könnten.
Was wiederum eine ganz andere Frage in den Raum stellt: Lohnt sich das für die Automobilhersteller überhaupt? Glaubt man Hochglanzbroschüren von IBM oder Amazon, ist die Antwort: nein. Laut der IBM-Studie „Automotive 2030: Racing toward a digital future“ sagen 48 Prozent der Konsumenten, dass die Fahrzeugmarke für sie in einem zukünftigen Szenario mit Mobilitätsdienstleistern und autonomen Fahrzeugen keine Rolle spiele. Entscheidend seien Preis und Bequemlichkeit. Allein: Diese Kriterien sind nicht mit dem heutigen Verständnis von Premium vereinbar. Aber noch etwas steht zwischen den Zeilen. Die Mobilität der Zukunft könnte vielleicht nicht mehr von einem individuellen Premiumerlebnis geprägt sein, das sich auch aus Vorstellung und Eitelkeit des Konsumenten („Ich will einen Porsche fahren“) ableitet.
Wie bewegen wir uns in Zukunft fort?
„Sicherlich werden Kundensegmente entstehen, die möglichst effizient von A nach B kommen möchten und denen egal ist, in welcher Art von Fahrzeug und von welcher Marke sie sitzen“, sagt Andreas Form, Partner bei Kearney und Experte für Marketing und Vertrieb in der Autoindustrie. Die Frage ist, werden diese Kundensegmente bestimmend für die Zukunft der Autoindustrie werden? Sind die heutigen Premiumhersteller gut beraten, sich schon jetzt auf eine solche reine Plattformwelt ein- und umzustellen? Nur: Ohne Premiummodelle und mit reiner Low-Cost Mobility wird kein Geld verdient.
Das Spannungsverhältnis, das sich zwischen Premium- und Plattformmobilität aufbaut, wird sich auch auf die Produktionsweise ausdehnen. So stehen auf der einen Seite die Mikrofabriken, zu denen viele bekannte Produktionsstätten vor allem in Hochlohnländern zählen, die mit einer hohen Flexibilität sowie kleinen Stückzahlen eines spezifischen Modells punkten können. Auf der anderen Seite warten die Gigafabriken, die für hohe Produktivität und hohe Stückzahlen stehen – hocheffiziente Rennerfertigungslinien. Allein Letztere sind in Hochlohnländern kaum – und vielleicht nur für Tesla – realisierbar. Nehmen wir Deutschland: „Hier gibt es eine vergleichsweise hohe Kostenstruktur, die höchsten Strompreise weltweit, eine kostenintensive soziale Absicherung, eine aufwendige, teure Verwaltung, viele Feiertage, eine reglementierte Arbeitszeit und eine Rechtssicherheit, die ihresgleichen sucht“, erklärt Christian Malorny. Gigafactorys können eigentlich nur dort etabliert werden, wo der Kostenfaktor niedrig ist, oder sie sind hochautomatisiert.
Der chinesische Markt verändert sich
Tatsächlich lassen sich schon jetzt in China Szenarien ablesen, die für die gesamte Branche von Bedeutung sein könnten. In der aktuellen Studie „Consumption Upgrade! – Next level brand evolution in the Chinese automotive market“ von Kearney konstatiert Thomas Luk, Partner bei Kearney und Experte für den chinesischen Automarkt, dass dort „chinesische Technologieunternehmen die Zukunft der weltweiten Mobilität bestimmen“. 55 Prozent der dortigen Konsumenten sprechen sich dafür aus, in den kommenden fünf Jahren den Kauf eines Premiumfahrzeugs von einem chinesischen Produzenten in Betracht zu ziehen. Ein eindeutiges Warnsignal an die ausländischen Premiumhersteller.
Es sind vor allem die jungen chinesischen Marken, die beim Kunden ankommen und ihre Fahrzeuge auf physisches und digitales Premium ausrichten. Besser gesagt, auf digitales chinesisches Premium. Apps, die es nur in China gibt, werden hier oft ab Werk angeboten, Digitalität im Fahrzeug ist eine Selbstverständlichkeit, die so ausgefeilt ist, dass Fahrzeuge der Hersteller NIO oder BYTON wie „fahrende Computer“ daherkommen und es kaum noch Nutzungsunterschiede zu Smartphone oder Home-PCs gibt. Die Folge: Klassisches Premium, wie es zum Beispiel die deutschen Automobilmarken anbieten, droht in China den Anschluss zu verlieren.
Daimler-Chef Ola Källenius sagte in einem Spiegel-Interview, dass man die Zahl der E-Autos 2020 auf einige Zehntausend und dann sehr schnell auf Hunderttausende steigern werde. Den Anteil an Elektro- und Hybridfahrzeugen, zuletzt weltweit zwei Prozent des Konzernabsatzes, wolle Daimler dieses Jahr vervierfachen und 2021 noch einmal verdoppeln. Auch bei BMW will man zwei Drittel der CO₂-Senkung mit E-Autos erreichen, bei Volkswagen sieht es ähnlich aus. Nur: Premiumqualität gibt es in vollelektrischen Fahrzeugen nicht in dem Ausmaß, wie es sonst in diesem Segment üblich ist. Klassischer „Motorsound“ und „Beschleunigung“ fallen als Unterscheidungsmerkmal quasi weg. „Die Automobilhersteller müssen für E-Fahrzeuge eine neue, eine eigene Art von Premium finden. Denkbar wäre etwa, dass ein vollkommen geräuschloses Elektrofahrzeug als ein solches Merkmal gelten könnte“, sagt Christian Malorny. Aber auch Reichweite, Zyklenfestigkeit, Ladeerlebnis und schließlich Fahrvergnügen sind noch junge Differenzierungsfaktoren.
Die Carsharing-Statistik 2020 des Bundesverbandes Carsharing ist deutlich: Die Anzahl der Sharing-Fahrzeuge legte im Vergleich zu 2019 um 25,7 Prozent zu, die Zahl der Anbieter stieg bundesweit von 45 auf 226. Und: je größer die Stadt, umso besser auch das Angebot. Die Automobilindustrie braucht also unterschiedliche Lösungen für die Stadt und für das Land. Autonom fahrende Fahrzeuge könnten dabei in der Stadt zunächst für Entspannung sorgen, wenn „Fahren auf Lücke“ möglich wird und damit eine deutlich bessere Platzausnutzung auf den Straßen stattfindet.
Was also entscheidet letztendlich über die Zukunft der Automobilindustrie? Sicherlich kein Einzelfaktor, sondern das Zusammenspiel und die Verschiebung der jeweiligen Parameter in den kommenden Jahren. Fakt ist, dass die Welt weiterhin Premiumfahrzeuge, insbesondere aus Deutschland, will und dass die Produzenten diese Begehrlichkeit auf ein neues Level bringen müssen. Wahrscheinlich ist das Spannungsverhältnis zwischen physischem und digitalem Premium der entscheidende Faktor. Aber nicht im Sinne von: das Eine oder das Andere. Derjenige Hersteller, der als Erster und am besten eine Kombination der beiden Welten erschafft, wird den Showdown in Deutschland, und letztendlich wohl global, für sich entscheiden.
Dieser Beitrag stammt aus dem Magazin we drive.